Days of Slumber

Days of Slumber

Days of Slumber

Mein Leben ist ein Kunstfilm. Ein Haufen von wirren Szenen, die sich zu irgendeinem Gesamtbild zusammensetzen, von dem man nicht sagen kann, ob es stimmig ist oder sinnvoll. Und doch schwebt über allem eine Art heilige Atmosphäre, die alles zusammenhält in einem Gefühl von Sehnsucht und Absurdität. Gerade hier in unserer Künstlerbaracke, in der wir nach all den Verwirrungen endlich angekommen sind, nimmt die Geschwindigkeit ständig zu und wir leben in einem Strom von Bildern:

Vor einigen Tagen in einer Bar mit zwei Japanern, Kato und Takaishi. In den Regalen unzählige Flaschen: Sake und Umeshu und Shochu. Taumelnde Männer und singende Frauen, die sich plötzlich ihres Schamgefühls bewusst werden und verstummen oder aufrecht gehen. Bier in Kühlschränken. Selbstbedienung. Ein weit nach vorn gebeugter Mann, der seine Nicht-Ehefrau lüstern anblickt. Sein Kopf schaukelt ziellos von links nach rechts und er lächelt ein zufriedenes und vielsagendes und beängstigendes Lächeln. Die Eigentümerin: eine alte Frau, gebückt durch ihr Reich patrouillierend, mit nüchternem, strengem Blick und einem urzeitlichen Rechenschieber in der Hand. Neben mir ein bizarres Gespräch über Regenschirme, schwierig zu rekonstruieren. Takaishi: „Es regnet. Wollen wir gehen oder fahren?“ Kato: „So oder so, vielleicht.“ Takaishi: „Wir sind zu viert. Hast du vier Regenschirme?“ Kato: „Was, vier Regenschirme? Ich soll vier Regenschirme kaufen?“ Und Kato ergreift die Flucht und ruft etwas wie ‚müde’, und wir fragen uns, wo er denn hin will und warum.

Der goldene Tempel in Kioto, Kinkaku-ji, strahlend in der Nachmittagsonne, schmerzhaft verglühend in der Bedeutungslosigkeit der durch das kleine Eingangstor drängenden Menschenmassen. Ein Teich, winzige Inseln mit seltsam geformten Nadelbäumen und perfekt arrangierten Schattierungen von braun und grün. Es ist nicht zu bestreiten: ein beruhigender Anblick. Und doch sind da hauptsächlich die Touristen, fein säuberlich aufgereiht für das nächste, immer gleiche Foto. Und der Tempel verliert seinen Glanz. Alles, was er einmal bedeutet hat oder bedeuten könnte, verschwindet.

Unser Raum, der nicht mehr ist als ein Aufenthaltsraum für die 200 in dem Haus lebenden Studenten, vollgestopft mit ranzigen Matratzen, vermodernden Decken, alten Papiertaschentüchern und ungewaschenen Töpfen. Und plötzlich stürmt eine Gruppe von Öko-Anti-Alles-Anti-Atomkraft-Aktivisten den Raum. Eine Party soll es geben und da wir uns nicht verständigen können, räumen wir das Feld, sitzen abseits und observieren. Eine aufgeregte Frau, die über süßen deutschen Wein philosophiert und sich in einen Rausch redet, weiter und weiter bis Hypnos über sie kommt. Sie sitzt da mit seltsam abgeknickten Kopf. Einige schlafen in unnatürlichen Posen und vor der Tür sammelt sich der Mob, die Reste des nächtlichen Kochexzesses musternd. Und als sich dann die Tür öffnet, strömen sie ein und nichtssagend setzen sie sich auf den Boden und schaufeln sich Reste von Nudeln oder Kartoffeln oder Fleisch in den Mund. Und irgendwann verlassen sie den Raum, ohne dass man ihre Stimme gehört hätte. Nur einmal erwache ich, der Morgen graut und alles gleicht einem festlichen Schlachtfeld und immer noch wird gekocht und geredet uns gegessen.

Und jetzt auch taucht der erste Abend wieder auf. Nach einer Flasche Whiskey und Wein und einem anderen undefinierbaren milchig-weißen Getränk, als Takaishi in bizarrer Weise einen Apfel schälen will und uns zeigt, wie man es eigentlich nicht macht. Natürlich sieht man das Unglück nahen und natürlich kommt es dann auch, als er mit dem riesigen Messer nicht den Apfel teilt, sondern seinen Finger und es nicht aufhört zu bluten.

In einem Onsen. Nebel. Regen. Hitze. Kälte. Koji, der nach 10 Minuten aus dem Wasser springt und eine Stunde auf uns wartet und dann nahe unserer Unterkunft wegläuft und sagt er hat Fieber und muss dringend schlafen. Später kehrt er wieder und fragt, wo wir essen wollen. Er schwärmt von einem guten Okonomiyaki-Restaurant und wie er es mag und läuft wieder los, begleitet uns nicht und lässt uns ratlos zurück.

Wieder Kato und Takaishi. Sich am Handy auf Englisch unterhaltend und sich nicht verstehend und doch immer weiter auf Englisch redend… Ein geschlachtetes Kaninchen und drei Hühner für das neue Jahr… Vier betrunkene Unbekannte in unserem Raum und Szenen, Szenen und immer mehr Szenen, die nicht zusammengehören. Und zum Jahreswechsel sitze ich in einem Café und denke darüber nach, wo das alles hinführen soll. Ob sich dieses Gefühl wohl irgendwann legt, noch nicht genug gesehen zu haben, zwischen den Orten zu leben und alles zu genießen, weil sich alles ständig ändert und in Bewegung ist. Wie lange mich dieser unwiderstehliche Drang wohl noch begleiten wird, Szenen zu sammeln, um schließlich genug Material zu haben für den einen, meinen ganz persönlichen Film, der die Welt zeigt, die ich sehe.


My life is an art house movie. A bunch of odd scenes that assemble to some overall picture of which you cannot tell whether it is coherent or meaningful. And yet a kind of holy atmosphere floats above it all, holding everything together in a feeling of craving and absurdity. Especially here in our artist shack, where we’ve finally arrived after all these confusions, the vicinity is constantly increasing and we live in a flow of images:

A couple of days ago, in a bar with two Japanese guys, Kato and Takaishi. Countless bottles on the shelves: sake and umeshu and shochu. Tumbling men and singing women who suddenly realise a sense of shame and become silent or walk upright. Beer in fridges. Self-service. A bowing man who gazes lasciviously at his not-quite-wife. His head is swaying erratically from left to right and he is smiling a satisfied and meaningful and frightening smile. The owner: an old bent over woman patrolling her kingdom with an unemotional, strict gaze and with an ancient slide rule in her hands. Next to me, a weird conversation about umbrellas, difficult to reconstruct. Takaishi: “It’s raining. Shall we walk home or take the train?” Kato: “Anyway, maybe.” Takaishi: “We are four. Do you have four umbrellas?” Kato: “Sorry, four umbrellas? Am I supposed to buy four umbrellas?” And Kato escapes saying something like ‘tired’ and we wonder where he wants to go and why.

The golden temple in Kyoto, Kinkaku-ji, shining in the afternoon sun, achingly gleaming in the vacuity of the masses of people pushing through the small entrance door. A pond, tiny islands with oddly shaped pine trees and perfectly arranged silhouettes from brown to green. There is no doubt: a calming view. And yet there are mainly tourists, rowing up neatly for the next, ever alike picture. And the temple loses its shine. Everything it has once stood for or could stand for in the future vanishes.

Our room, which is not more than a lounge for the 200 students living in the dormitory, totally crammed with filthy mattresses, rotting blankets, used handkerchiefs and dirty dishes. All of a sudden, a group of eco-anti-everything-anti-nuclear-power activists is invading the room. There is supposed to be a party, and since we cannot communicate with each other, we leave the area, sit aside and observe. An excited woman philosophising about sweet German wine and talking herself into inebriation, on and on, until hypnos comes over her. There she sits with her head snapped off. Some are sleeping in unnatural positions and in front of the door the mob is gathering, staring at the leftovers of the nightly cooking excess. And as the door opens, they stream inside and sit down on the floor without saying a word and scoop in the rests of noodles or potatoes or meat. And at some point of time, they leave the room not having heard them speaking. Only once I wake up, the morning comes and everything resembles a festive battlefield and they are still cooking and talking and eating.

And now also the first evening comes back to my mind. After a bottle of whisky and wine and another indefinable milky beverage, as Takaishi wants to peel an apple in a bizarre manner and actually shows us how you shouldn’t do it. Of course, you can see the misfortune approaching and it eventually takes place as he doesn’t cut the apple with his huge knife, but his finger instead and it doesn’t stop bleeding.

In an onsen. Fog. Rain. Heat. Cold. Koji, who jumps out of the water after ten minutes and is waiting for us for one hour, and runs away near the dormitory saying he has a fever and needs to sleep urgently. He later returns asking where we would like to eat dinner. He recommends a good okonomiyaki restaurant and how he likes it and runs away again, doesn’t accompany us and leaves us behind clueless.

Once again Kato and Takaishi. Talking in English on the phone and not understanding each other and yet continuing to talk in English… A slaughtered rabbit and three chickens for New Year’s… Four drunken strangers in our room and scenes, scenes and more and more scenes that don’t belong together. And as the year turns, I’m sitting in a café and ponder where this is all heading to. Whether this feeling of not having seen enough, of living between the places and enjoying it all because everything is changing and moving steadily, will eventually settle down. How long this irresistible drive will actually accompany me, collecting scenes in order to finally have enough material for my own, very personal movie showing the world that I see.


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